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Müssen wir wirklich mehr arbeiten?

Regelmäßig wird behauptet, dass wir Deutsche „wieder mehr arbeiten“ müssten. Erst kürzlich hat Bundeskanzler Friedrich Merz diese Argumentation vertreten. Denn ohne Mehrarbeit sei der Wohlstand gefährdet, so Merz weiter. Im gleichen Atemzug kritisierte er Arbeitszeitverkürzungen wie die Vier-Tage-Woche sowie die starke Fokussierung auf Work-Life-Balance, da dies die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gefährden könne. Diese Sichtweise wirkt alternativlos – um es mit Merkels Lieblingswort zu sagen – ist jedoch einseitig, weil sie entscheidende Aspekte außer Acht lässt:


Zunächst einmal hat sich die Arbeitszeit für Vollzeitkräfte über die letzten Jahrzehnte kaum verringert. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist lediglich gesunken, weil viele Menschen in Teilzeit arbeiten – und das aus nachvollziehbaren Gründen:

  • Teilzeitarbeit betrifft vor allem Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren müssen.

  • In den 1990er-Jahren wurde die hohe Arbeitslosigkeit häufig mit prekären, befristeten und unsicheren Beschäftigungen bekämpft.

  • Viele Arbeitnehmer können die steigenden Leistungsanforderungen nur bewältigen, indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren.

  • Immer mehr Menschen tauschen materiellen Wohlstand bewusst gegen Zeitwohlstand ein – ein Zeichen dafür, dass man in der Gesellschaft anfängt, unter Wohlstand was anderes zu verstehen als bisher.


Dann ist unser Beschäftigungssystem durch und durch von Mehrarbeit geprägt. Einerseits steigt die Arbeitsproduktivität: Zwischen 1991 und 2024 hat sie sich mehr als verdoppelt, sodass ein Arbeitnehmer heute doppelt so viel leistet wie vor 30 Jahren. Andererseits leisten deutsche Beschäftigte jährlich zwischen einer und zwei Milliarden Überstunden. Merz’ Forderung nach mehr Arbeit wirkt daher wie ein Schlag ins Gesicht der rund 46 Millionen Arbeitnehmer, die Woche für Woche mehr als ihre Pflicht erfüllen.

Doch die Wirtschaft lahmt nicht primär, weil zu wenig gearbeitet wird. Deutschland als Exportnation spürt vielmehr die Auswirkungen der stockenden Weltwirtschaft. Besonders die unberechenbare US-Handelspolitik und die schwierige Lage auf dem chinesischen Markt schränken Absatzmöglichkeiten ein und sorgen für rückläufige Auftragseingänge. Selbst wenn wir mehr arbeiten würden, wäre weiteres Wachstum der Wirtschaft nicht garantiert – eher würden die Bestände an unverkauften Waren wachsen, weil wir auf Halde produzieren.


Den Fachkräftemangel gibt es zweifellos. Man erkennt ihn schon an der Aufschrift „Kollege gesucht“, der auf sehr vielen LKWs zu lesen ist. Doch die Lösung des Problems liegt nicht darin, den bestehenden Arbeitnehmern noch mehr Last aufzubürden, sondern darin, die Ursachen zu analysieren und gezielt dagegen vorzugehen:

  • Über Jahrzehnte wurden ältere Mitarbeiter aus Kostengründen in den Vorruhestand geschickt – heute fehlen sie. Diese fragwürdige Personalpolitik gehört abgeschafft.

  • In Branchen wie Gastronomie und Hotellerie, wo Personal besonders knapp ist, wandern Fachkräfte ins Ausland ab, weil sie dort bessere Löhne erhalten. Verbesserte Arbeitsbedingungen könnten helfen, die Abwanderung zu stoppen bzw. mehr Beschäftigte zu gewinnen.

  • Der demographische Wandel zeigt, dass immer mehr ältere Menschen immer weniger jungen gegenüberstehen. Hier sind politische Lösungen gefragt – eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit könnte ein Ansatz unter mehreren sein, da viele Menschen länger gesund bleiben.


Grundsätzlich folgt Merz’ Vorschlag dem Motto „mehr vom Alten“ – mehr Arbeit, mehr Wachstum, mehr Wohlstand. Früher mag dieses Konzept funktioniert haben, doch heute stellt sich die Frage: Sind diese Maßnahmen wirklich die Lösung oder verschärfen sie die Probleme nur weiter?

  • Die geforderte Mehrarbeit könnte angesichts der hohen Arbeitsbelastung und der bestehenden Missstände zu noch gravierenderen gesundheitlichen Folgen führen. Und nicht zu vergessen: Eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit würde zudem einen historischen Trend umkehren, der seit der Industrialisierung als Errungenschaft gilt.

  • Diese Diskussion blendet die zunehmende Technologisierung von Arbeit aus, die durch die Digitalisierung einen enormen Schub erhält. Immer mehr Tätigkeiten werden automatisierbar. Statt mehr Arbeit von den Menschen zu fordern, sollten wir diese konsequent digitalisieren, d.h. menschliche Arbeitskraft durch technologische ersetzen und die daraus resultierenden Produktivitätszuwächse so verwenden, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit weiter reduzieren können. Damit könnten wir endlich das Versprechen der Industriegesellschaft einlösen: Menschen von der Last der Arbeit zu befreien. So gesehen, ist genaue das Gegenteil dessen angebracht, was Merz & Co fordern: Wir müssen nicht mehr arbeiten, sondern können es uns leisten, viel weniger zu arbeiten. Wir sollten daher schon längst gesellschaftlich diskutieren, was Menschen Anspruchsvolleres tun können, wenn sie sich nicht mehr mittels Erwerbsarbeit verdingen müssen.

  • Das ungebremste Wirtschaftswachstum bringt zunehmend Nachteile mit sich. Es vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich, statt für mehr allgemeinen Wohlstand zu sorgen, sorgt für Überproduktion und Krisen, erschwert den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und beschleunigt den Raubbau an der Natur. Allmählich widerfährt dem Beharren auf Wachstum, was Goethe in seinem „Faust“ so treffend formuliert:

„Vernunft wird Unsinn. Wohltat wird zur Plage.“


Unsere Gesellschaft braucht neue sozio-ökonomische Überlegungen, die Denkroutinen und nicht mehr tragfähige Antworten hinterfragen und überwinden; die ideenreich, durchdacht, lösungsorientiert und zukunftsweisend sind; die uns nicht "mehr vom Gleichen", sondern "qualitativ Besseres" versprechen. Solche Konzepte gibt es, wie zum Beispiel „Neue Arbeit-Neue Kultur“ des Philosophen und Aktivisten Frithjof Bergmann. Doch es bedarf einer Politik, die mutig genug ist, solche Ansätze umzusetzen, statt am Alten festzuhalten.

 

 
 
 

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