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arbeit und demokratie

Arbeit und Identität

Wir sind eine Arbeitsgesellschaft. Deshalb gewinnen wir unsere Identität primär durch Arbeit, genauer durch Erwerbsarbeit. Wir erkennen das unter anderem daran, dass wir, wenn wir uns nicht kennen, uns gegenseitig fragen, was wir beruflich tun, um zu erfahren, wer der jeweils andere ist.

Arbeit hatte nicht immer diesen Stellenwert. In vorindustrieller Zeit waren Religion, Tradition, Sitte und Gebräuche oder lokale Herkunft mindestens ebenso identitätsstiftend, wenn nicht mehr. Doch diese gesellschaftlichen Gegebenheiten wurden durch die Industrie- und Arbeitsgesellschaft nach und nach verdrängt, bis Arbeit als vorherrschende identitätsstiftende Kraft übrigblieb. Heute jedoch beginnt diese Identitätsbildung zu bröckeln:

 

Missstände im Jobsystem

Wer arbeitslos ist, dem ist die Identifikation mit seinem Job von vorneherein verwehrt. Derzeit steigen die Zahlen der Beschäftigungslosen. Außerdem bekommt die Technologisierung der Arbeit mit der Digitalisierung einen enormen Schub, so dass künftig weit mehr Jobs automatisiert und Erwerbstätige ihre Arbeit verlieren werden.

Wer hingegen einen Job hat, kämpft mit vielen Widrigkeiten, die ihm nicht nur das Arbeitsleben, sondern auch die Möglichkeit erschweren, sich durch Arbeit zu identifizieren. Zu den zentralen Missständen zählen:

Arbeitsverdichtung: Beschäftigte müssen mehr und mehr Arbeit in einer gegebenen Zeit erledigen. Optimieren Arbeitgeber dieses Verhältnis immer weiter, so verwandelt sich Arbeit in Leistung und wir geraten unter Leistungsdruck.

Zeitdruck: Muss mehr Arbeit pro Zeiteinheit geleistet werden, so führt das dazu, dass wir unter Zeitdruck geraten.

Erfolgsdruck: Erfolg ist ein ausschlaggebendes Kriterium in der Arbeitswelt geworden. Doch Erfolg sättigt nicht, er macht hungrig. Planzahlen und Ziele werden hochgeschraubt und dies führt zu Erfolgsdruck.

Überstunden: Mehrarbeit gehört zum beruflichen Alltag, besonders in Organisationen, in denen Unterbeschäftigung herrscht.

Sinnlose Jobs: Immer mehr Menschen arbeiten in Tätigkeiten, die keinen gesellschaftlichen Nutzen bringen. Sie erkennen die Sinnlosigkeit ihrer Arbeit, fühlen sich überflüssig und kündigen innerlich. David Graeber bezeichnete dieses Phänomen als „Bullshit Jobs“.

Unausgewogene Work-Life-Balance: Der Job dominiert das Leben und verdrängt andere Lebensbereiche.

 

 

Identitätskrise schwächt Demokratie

Was passiert, wenn Erwerbsarbeit als zentrale Quelle der Identifikation versiegt? Menschen verlieren Orientierung und Sinn. In dieser Lage:

  • Suchen sie nach Alternativen, um sich zu identifizieren. Doch die Gesellschaft bietet kaum Ersatz. Angesichts wachsender Ungleichheit und der Kluft zwischen Arm und Reich greifen viele auf ihre Nationalität zurück – das Einzige, was ihnen bleibt.

  • Treten Parteien auf den Plan, die diese Unzufriedenheit erkennen, verstärken und für ihre Zwecke nutzen. Sie bieten vermeintliche „Heimat“.

  • Scheitern etablierte Parteien, weil sie keine wirksamen Antworten liefern. Statt neue Konzepte zu entwickeln, setzen sie auf wirkungslose Aktionen wie „gegen rechts“ oder Programme zur „Demokratieförderung“. Man könnte sagen: Die etablierten Parteien verstehen die Welt nicht mehr. Zugleich fehlt ihnen der Wille, bisherige Überzeugungen, Prinzipien und Positionen zu hinterfragen, Neues zu wagen, den überfälligen Reformstau aufzulösen und dabei alle gesellschaftlichen Gruppen nicht nur mitzunehmen, sondern auch einen Beitrag von ihnen zu verlangen.

  • Verliert Demokratie an Boden, wenn sie die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht erfüllt. Demokratie ist kein Selbstzweck, den es zu beschwören gilt. Demokratie muss sich bewähren. Sonst wählt die Bevölkerung jene, die ihr zumindest das verspricht, was ihr fehlt. An dieser Stelle sei erwähnt, dass viele Menschen Randparteien wählen, nicht weil sie „rechts“ oder „antidemokratisch“ sind, sondern weil sie sich eine Politik wünschen, die ihr Bedürfnis nach einem gerechteren, sinnvolleren und perspektivenreicheren Leben ernst nimmt.

Die Folge: Die positive Identifikation schwindet, die Unzufriedenheit wächst, etablierte Parteien finden keine Lösungen, das Vertrauen in die Demokratie sinkt, Randparteien gewinnen Zulauf, die Flüchtlingssituation verstärkt das Gefühl der Entfremdung – ein explosives gesellschaftliches Gemisch entsteht.

 

New Work als Ausweg

Die Suche nach neuer Identifikation bleibt zentral. New Work bietet einen Ausweg aus der Sackgasse. New Work, begründet von dem Philosophen und Aktivisten Frithjof Bergmann, ist ein vielschichtiges Konzept zur Gestaltung der Zukunft der Arbeit, das Identifikation ermöglicht:

New Work macht Mensch und Gesellschaft unabhängiger vom Jobsystem, das Identifikation verspricht, aber nicht hält.

New Work führt zu einem Wirtschaften, das die Kluft zwischen arm und reich reduziert und somit wieder Identifikation mit der Gesellschaft ermöglicht.

New Work integriert alle gesellschaftlichen Gruppen, während unser jetziges sozio-ökonomisches System zu viele ausschließt.

New Work führt explizit eine neue Form von Arbeit ein, die wieder Identifikation ermöglicht. Bergmann nennt diese Arbeit Calling oder Berufung. Sie dient der Entwicklung des Menschen, nicht umgekehrt. Sie bringt zum Ausdruck, was Menschen wirklich wollen und können. In dem wir Berufung als Gegenbegriff zum Job darstellen, wird deutlich, was mit ihr gemeint ist:

 

Job versus Berufung

Der Job dient dem Lebensunterhalt – er ist notwendig.                                                           Die Berufung dient der individuellen Entfaltung – sie ist frei. 

                                                             

Im Job arbeiten wir für andere.                                                                                       

In der Berufung arbeiten wir für uns selbst.

 

Im Job verwirklichen wir fremde Ziele.

In der Berufung verwirklichen wir unsere eigenen.

 

In der Berufung sind wir unser eigener Herr.

Im Job dienen wir einem anderen.

 

Die Berufung ist eine Arbeit, mit der wir uns identifizieren, weil

·         sie unserer inneren Natur entspricht.

·         sie unsere Leidenschaft ausdrückt.

·         sie uns zur Geltung bringt.

·         sie eine Lebensaufgabe darstellt.


Bergmann schrieb: „Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass viele Menschen wie Treibholz sind, das in der Brandung hin und her geworfen wird. Bei ihnen haben die äußeren Kräfte fast immer das letzte Wort“. (Neue Arbeit-Neue Kultur, 2004, Arbor-Verlag, Freiamt, S. 140).

Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann ist eine Berufung das beste Heilmittel gegen diesen Zustand. Denn sie stiftet Identität, aber auch Stabilität, Selbstvertrauen und Haltung. Sie schenkt Orientierung und Sinn, verwandelt Unzufriedenheit in Erfüllung. Wer seine Berufung lebt, ist davor gefeit, Demagogen und Populisten anheim zu fallen – und bleibt einer Demokratie treu, die diese Entwicklung ermöglicht.

 

 
 
 

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